Das Vreni

Das Leben in Erlinsburg ist geprägt vom immerwährenden Geplätscher des Brunnens am Dorfplatz. Dieses Plätschern setzt sich dann fort in den Gesprächen der Passanten, die sich zufällig begegnen, um es als Kunden in die Geschäfte zu tragen und von dort nach Hause an den Mittagstisch. Besonders gerne geplätschert wird im Friseursalon von Verena Vögtli. Das Vreni ist eine routinierte Zuhörerin in angenehmer Zurückhaltung. Ihre Kundinnen berichten gerne aus den alten Tagen, viel eher vom gelungenen Teil dieser Tage als von Verpasstem und Verfehltem. Vreni widerspricht nicht und redet über das soeben Vernommene nie mit anderen Kundinnen. Sie sagt auch nichts, wenn sie, wie es die Gabe mancher Friseurinnen ist, an Veränderungen in der Art des Haarwuchses erspürt, dass sich der Lebensfaden der Kundin schon bald zum Ende hin neigen wird.

Ihr Berufsverband schickte sich vor einiger Zeit an, seine Mitglieder, so auch Vreni Vögtli, auf die Zukunft der Branche vorzubereiten. Eine Zukunft ohne Zukunft, wie es Vreni Vögtli mithin schien. An einer Veranstaltung des Verbands vernahm sie, wie wichtig es sei, die Beziehung zu den Kundinnen aktiv zu pflegen, weit über den eigentlichen Bedienungsvorgang hinaus. Die Kundenbeziehung sei vielmehr als eine Beziehung für das ganze Leben zu betrachten. Zuhause kam Vreni über das Gehörte ins Grübeln. Welches ganze Leben war damit gemeint? Das ganze Leben ihrer Kundinnen oder ihr eigenes? Tags darauf öffnete sie im Geschäft das Kästchen mit der Kundenkartei und stellte fest, dass von den dort vermerkten Kundinnen wohl die Hälfte bereits gestorben war. Sie unterteilte die Kundinnen also in die noch Lebenden und die schon Gestorbenen und machte sich über beide Kategorien Gedanken. Denn die Kunden sind zu kategorisieren, hatte sie gestern gehört, und für jede Kategorie ist eine andere Art der lebenslangen Beziehungspflege zu überlegen. Bei den Schongestorbenen beschloss sie, sie regelmässig auf dem Friedhof zu besuchen und ihnen ein bisschen zu erzählen, wie die Geschichten im Dorf weitergegangen waren. Hierbei wollte sie die schöne Seite besonders hervorheben. Für die Nochlebenden wollte sie kleine Überraschungen planen, spontan eine selbstgebackene Züpfe vorbeibringen oder einen Bänz in der Adventszeit. Zur Gewinnung von neuen Kundinnen, auch das ein Thema des Verbands gestern, markierte sie vermehrt Präsenz an Beerdigungen, auch an solchen von ihr nicht sonderlich bekannten Verstorbenen. So konnte die Trauergemeinde, die in Erlinsburg allzeit stattlich war, sie immer wieder als eine der ihren wahrnehmen. Als dieser Plan nach einiger Zeit in seiner Umsetzung gefestigt war, stellte Vreni Vögtli in beiden Kategorien das vom Verband prophezeite Wachstum fest, bei den Nochlebenden genauso wie bei den Schongestorbenen.

Ihr nahender siebzigster Geburtstag macht Vreni Vögtli derzeit ein wenig zu schaffen. Sie spürt, es wäre wohl an der Zeit, über die Endlichkeit des eigenen Lebens nachzudenken und den Nachlass zu regeln, für den Fall der Fälle. Vor allem empfindet sie anderseits einen gewissen Schauder bei der Frage, welche Überraschung sich ihre beiden jüngeren Schwestern wohl dieses Mal zu Vrenis rundem Geburtstag ausheckten. Zum Fünfzigsten wurde sie verschleppt zu den Chippendales, zum Sechzigsten an ein Konzert der Toten Hosen, in einer viel zu kleinen Halle mit schweissverklebten Leibern und glücklichen Gesichtern. Die Masse in rasender Bewegung zu betrachten, war interessant, auch das Gejohle und das Gekreische. Sie macht sich aber nun mal nichts aus solch gesinnungsschwangerer Popmusik. Sie war vor Jahren zufällig auf Sufjan Stevens gestossen, dessen Songs sie in ihrem Innersten berührt hatten, leise und zart. Das hatte sie sehr verwundert, denn sie verstand damals noch kein Englisch. Seither belegt sie an der Volkshochschule einen Kurs. Anhand der Songtexte von Stevens konnte sie dann Schritt für Schritt erkennen, in ihm tatsächlich einen Verbündeten gefunden zu haben.

Rückschau halten ist nicht die Art von Vreni Vögtli. Darin unterscheidet sie sich doch sehr von all den anderen im Dorf. Ihr Blick geht lieber nach vorn. Vrenis Leben war ja auch zufriedenstellend, im Grossen und Ganzen. Bei dieser Betrachtung ist wohl von Nutzen, dass sie an das Leben keinerlei Ansprüche stellt. Sie gehört zu den einfachen Leuten, hätte man früher gesagt, sie hat ein Leben lang getan, was zu tun ist. Sie hatte eine gute Kindheit auf dem elterlichen Hof der Fankhausers, Sie liebte die Tiere, die Kälber vor allem. In jedem Frühjahr durften sie und die beiden Schwestern aus dem Wurf frischer Kätzchen je eines aussuchen. Die andern gab der Vater weg, wie er sagte. Im Herbst halfen die drei Kinder dem Vater beim Brennen des Birnenschnapses. Der Vater behielt jeweils exakt eine Flasche für sich, die andern verkaufte er, wie er sagte. Die Eltern waren gerecht zu den Kindern. Einen einzigen kleinen Unterschied machte die Mutter. Wenn sie traurig war, huschte sie des Nachts stets in Vrenis Zimmer, legte sich wortlos zu ihr unter die Decke und schluchzte leise. Das war das Privileg von Vreni: Sie hatte Anteil an den Tränen der Mutter. Darüber gesprochen haben sie nie. Als die Mutter viele Jahre später bettlägerig war, schien es Vreni, als sei es der richtige Moment, die Mutter auf ihre einstigen Tränen anzusprechen. Aber die Mutter konnte sich nicht erinnern, wie sie sagte. Auch sie hielt nicht gerne Rückschau und starb ruhig und zufrieden in der Gewissheit, dass ihr Hannes im Himmel auf sie wartete.

Vreni ging nicht ungern zur Schule. Sie mochte ihre Primarlehrerin, Fräulein Weibel, weil diese es verstand, allen Schülern zu vermitteln, etwas Besonderes zu sein. Vielleicht hatte Vreni deshalb stets ein Gefühl, die Klasse bestehe aus den Knaben, den Mädchen und ihm, dem Vreni. Zwar werden in der Gegend von Erlinsburg alle Mädchen und Frauen sächlich gehandhabt: das Susi, das Evi oder eben das Vreni. Auf Vreni traf dies jedoch wirklich zu. Sie fühlte sich stets als Neutrum.

In der Sekundarschule reiften allmählich die Körper, ohne dass sich an Vrenis Neutrum etwas geändert hätte. Von den Pickeln blieb sie als einziges Mädchen verschont. Die Jungen grölten in den Pausen immer lauter und versuchten sich in allerhand Mutproben, von denen sie dann lauthals prahlten. Die Mädchen begannen für den Klassenlehrer zu schwärmen, einen drahtigen, frisch verheirateten Bauernsohn, oder für den Turnlehrer, einen braungebrannten Sunnyboy mit Sportwagen. Für Vreni waren die Sportstunden bei ihm eine Qual, weil ihre inzwischen wohlausgeformte Büste bei jedem Sprint und bei jeder Bodenübung höllisch schmerzte. Sie wurde von den Mädchen gehänselt, die in Wahrheit wohl einfach neidisch auf Vrenis Opulenz waren. Denn das war genau das, was die Chancen der Mädchen vor allem beim Sunnyboy wohl entscheidend erhöht hätte. Die verstohlenen Blicke der Jungen hingegen nahm Vreni nicht wahr. Der Sunnyboy wollte sie dann einmal mit dem Sportwagen mitnehmen, nicht jedoch ihr Fahrrad.

Als die Jungen auf dem Pausenhof den Flachmann herumzureichen begannen, den Mädchen das Fläschchen jedoch demonstrativ vorenthielten, nahm Vreni eines Morgens auf nüchternen Magen vier grosse Schluck von Vaters Birnenschnaps und hauchte in der Schule jeden Jungen an. Während der ersten Schulstunde war ihr dann ganz plötzlich danach, den Kopf auf das Pult legen. Sie schlief sofort ein. In der nächsten Pause wurde sie nach Hause geschickt.

Wie in solchen Situationen im Dorf üblich, floss die Information über das Unsägliche schneller als elektrischer Strom, so dass der Vater Vreni bereits erwartete. Sie musste sich zu ihm an den Stubentisch setzen. Der Vater sagte, wenn sie sich jetzt aufführe wie ein erwachsener Mann, könne sie bestimmt auch Zigarren rauchen. Er zündete einen seiner dicken Sonntagsstumpen an und gab ihn ihr zu rauchen. Vrenis Gedanken begannen schon nach dem ersten Zug wie wild zu kreisen, das Blut sackte aus ihrem Kopf und eine grässliche Übelkeit überfiel sie. Sie sah den Sunnyboy grinsen, sie sah die Mädchen grinsen, sie sah die Jungen grinsen. Sie sah den Vater grinsen und wusste, sie musste jetzt durchhalten, sie durfte um keinen Preis schlappmachen. Doch kurz nach der Hälfte der Zigarre kotzte sie mit einem riesigen Schwall, der von ganz innen und doch von ganz weit weg aus ihrem Mund geschossen kam, die halbe Stube voll. Es schien ihr, das Erbrochene enthielte auch die längst verhockten Krusten im Gedärm, im Gehirn und in ihrem Herzen. In der Schule hatte gerade die vormittägliche Mathematikstunde begonnen. Der Vater war zufrieden, und Vreni durfte endlich ihren Rausch ausschlafen. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, fühlte sie sich zum ersten Mal mit sich im Reinen.

Sie machte im Dorf eine Lehre als Friseurin, arbeitete anschliessend während zwei Jahren im Welschland, bevor sie zu ihrem Lehrmeister, Herrn Lüthi, zurückkehrte. Sie mietete im selben Haus an der Hauptstrasse eine Wohnung, was einfach war, weil es das Elternhaus ihrer Mutter war, die es inzwischen geerbt hatte. Mit den Jahren stellte Vreni fest, dass das Heer stattlicher Verehrer gänzlich an ihr vorbeigeschritten war, ohne je auch nur kurz bei ihr haltzumachen. Amouröse Avancen wurden ihr selten zuteil und wenn doch, dann nur von Figuren, die einer nach einem Hinterhalt schwer beschädigten Truppe entsprungen schienen und erst mit viel Alkohol etwas zutraulicher wurden. An der Klassenzusammenkunft kurz vor ihrem 25. Geburtstag fiel ihr auf, dass alle Mädchen aus ihrer Klasse bereits verheiratet waren und sich mit Kind und Kegel herumzuschlagen begonnen hatten.

Sie wurde Kassierin des Turnvereins Erlinsburg und machte als Bauerstochter bei den Landfrauen mit. Als Herr Lüthi erkrankte, sagte er zu Vreni, es sei sein Wunsch, das Geschäft in gute Hände zu geben, und er sei gewiss, dass sie diese guten Hände habe. So führt sie seit 45 Jahren den Salon Lüthi für den erkrankten und bald verstorbenen Chef. Sie hat sich bis heute nie ganz an den Gedanken gewöhnen können, dass das Geschäft längst ihr Geschäft war.

Einer der ersten Ausflüge führte die Landfrauen zur nahegelegenen Kaserne der Transporttruppen. Ein freundlicher Adjutant empfing die kichernde Damenschar und liess sie in viel zu grosse Kampfanzüge steigen. Nach einer kleinen Theoriestunde, die in Wirklichkeit ein Kaffeekränzchen war, machten sie sich auf zur Fahrpiste, wo diejenigen Frauen, die den Führerschein besassen, unter kundiger Instruktion des Adjutanten den schweren Saurer durch den Fahrparcours mit allerhand Steilkurven, Schlamm und imposantem Gefälle treiben durften. Nach der Fahrübung gab es in der Kantine wahlweise Spatz oder Gehacktes mit Hörnli und Apfelmus. Der Adjutant entliess den Landfrauentrupp am frühen Nachmittag, nicht ohne anerkennende Worte über ihre Tüchtigkeit am Steuer des Saurers gefunden zu haben.

Peter Vögtli, der Adjutant, stand am nächsten Tag plötzlich und in zivil im Friseursalon und fragte Vreni etwas verlegen, ob er sie heute Abend nach getaner Arbeit zum Kaffee ausführen dürfe. Hoppla Schorsch, dachte Vreni, und sagte zu. Sogleich tat ihr die spontane Zusage leid, weil sie Herrn Vögtli nichts zu bieten haben würde, ausser ihr Desinteresse. Es ergab sich jedoch ein netter Abend, weil Adjutant Vögtli richtig erkannt hatte, dass Vreni, wie er auch, bis anhin ganz allein durchs Leben ging. Als er ihr seinen Wunsch offenbarte, sich gelegentlich binden zu wollen, um eine Familie zu gründen, öffnete sich Vrenis Herz einen spaltbreit und sie erwog einen Moment lang die Möglichkeit, sich vielleicht doch noch auf einen, vielleicht sogar auf diesen Mann einzulassen. Sie lud ihn zum Abschluss des Abends zu einem Schlummertrunk in ihre Wohnung ein, wo er sich angetan zeigte von der aparten Einrichtung und davon, dass von der Hauptstrasse nichts zu hören war. Sie setzten sich auf das Sofa und nippten an ihrem Glas. Plötzlich rutschte er vom Sofa auf die Knie, drehte sich zu Vreni um, legte seine Hände an die Seiten von Vrenis Oberschenkeln, senkte seinen Kopf sachte in ihren Schoss und begann zu weinen. Sie streichelte sanft den Hinterkopf dieses traurigen Mannes. Damit ist die Sache offenbar beschlossen, dachte Vreni.

Ihre Eltern waren sehr erfreut über Vrenis Bekanntschaft, wie sie sagten. Sie zeigten sich Peter Vögtli von ihrer zuvorkommenden Seite. Dies ermunterte ihn, mit ihnen seine Zukunftspläne zu erörtern: Heirat, Hausbau mit angebautem neuem Salon für Vreni, Kinder, sein Einstieg in eine andere Branche, Immobilien vielleicht. Noch vor der Hochzeit überschrieben die Eltern einen der Bauplätze an Vreni, die sie für die drei Kinder aus dem Verkauf ihres Ackerlandes für die Autobahn erworben hatten. Die Bauarbeiten am Haus begannen kurz nach der Hochzeit. Als Vreni dann ein Jahr später schwanger wurde, schienen Peter und auch die Eltern glücklich, wie sie sagten.

Vreni hatte das Gefühl, dass Peter sie sehr liebte und vielleicht noch etwas mehr ihre grossen Brüste. Er liebte es, diese zu liebkosen und stundenlang zu küssen, und beteuerte immer wieder, in ihrer Üppigkeit zu ertrinken, sei der ideale Tod für ihn. Mit der Zeit war es ihm dann ein Drang, im Liebesspiel ihre Brüste mit Kabelbindern zu fesseln, bis sie dunkelrot angelaufen waren. Eines Tages entdeckte Vreni ein Jagdmesser in der Schublade von Peters Nachttisch, worüber sie sich irritiert zeigte. Peter versuchte ihr zu erklären, das Messer sei zum Schutz, er würde nicht zögern, einen Einbrecher damit in die Flucht zu schlagen.

Die Paare, die ein Kind erwarteten, besuchten einen Kurs zur Geburtsvorbereitung. Die Kursleiterin, Gabi, legte Wert darauf, dass auch die Männer sich für ihr Kind interessierten. Die werdenden Väter mussten sich eine Schürze anziehen, die ihnen einen Babybauch verlieh, und lernten richtig zu atmen und zu pressen. Gabi lud sie auch ein, sich ein kleines Willkommensgeschenk für den neuen Erdenmenschen auszudenken. Eine kleine Lokomotive vielleicht, oder eine schöne Puppe. Das Geschenk, welches Peter besorgte, war eine elektrische Milchpumpe. Er sagte zu Vreni, damit wolle er ihre überschüssige Muttermilch abpumpen, um sie dann selber zu trinken.

Als sie im sechsten Monat schwanger war, ereignete sich in Bern ein Mord an einer Frau. Jemand hatte dem Opfer beide Brüste abgeschnitten. Schwer verletzt konnte sich die Frau noch zum Telefon schleppen und den Notruf wählen, bevor sie verblutete. Die Aufzeichnung des Notrufs mit der Stimme des Mörders im Hintergrund nutzte die Polizei in der Hoffnung, den Mörder mit Hilfe der Bevölkerung zu identifizieren, zum Aufruf, sich das Band über eine spezielle Telefonnummer anzuhören. Vreni war sehr versucht, die Nummer zu wählen, weil sie plötzlich den Gedanken hegte, Peter könnte der Mörder sein. Er war fixiert auf Frauenbrüste. Er verwahrte ein Jagdmesser im Nachttisch und hatte sich am Tag des Mordes zur Schulung in Bern aufgehalten. Sie fürchtete sich aber davor, ihn tatsächlich auf dem Band zu hören. So steigerten sich die Gedanken in ihrem Kopf in ein furchtbares Hin und Her, wodurch sie sich über die Tage in eine so grosse Erregung steigerte, dass sie ihr Kind verlor. So sehr hatte sie die Mordsache und der inzwischen zur Gewissheit geronnene Verdacht, dass Peter der Mörder war, aufgeregt. Einige Tage nach dem Aufruf der Polizei wurde der Mörder, ein Handwerker aus Bern, gefasst. Er hatte die Telefonnummer von seinem Privatanschluss gewählt. Wie in der Boulevardzeitung zu lesen war, hatte es nie eine Männerstimme im Hintergrund des Notrufs gegeben.

Vreni konnte sich in ihrer Trauer um das verlorene Kind nicht vom Gedanken befreien, dass die Polizei trotz sofortigem Geständnis den Falschen verhaftet hatte. Sie trennte sich in der Folge von Peter, indem sie ihn kurzerhand aus dem Haus warf. Er jammerte eine Zeitlang, er schickte ihr Blumen, schrieb Gedichte, stellte sich nach Mitternacht in ihrem Garten auf und heulte aus voller Lunge mit den Katzen. Nach einiger Zeit verliebte er sich in ein anderes Paar Brüste und gab Ruhe. Vreni erwarb einen Kater und liess ihn vorsichtshalber kastrieren.

Vrenis Leben ist seither vor allem Arbeit. Dennoch reist sie jeweils an einem Montag im März mit dem Zug nach Zürich. Sie besucht zuerst den Bankberater an der Bahnhofstrasse, dann die Tiere im Zoo. Herr Bachmann, der sie jeweils mit feinem Spott in den Mundwinkeln empfängt, hatte auch in diesem Jahr ein mehrseitiges Dokument in einer Ledermappe mit Goldschloss für sie vorbereiten lassen. «Wir reden wohl schon bald von einer achtstelligen Zahl», sagte Herr Bachmann. Vreni und ihre Schwestern hatten sich entschieden, das Geld, das sie für ihre Eltern seit deren Tod aufbewahrten, möglichst weit weg von Erlinsburg verwalten zu lassen, weit weg vom inzwischen bebauten Land, das ihre Eltern vorteilhaft verkauft hatten. «Ihr Aktiendepot umfasst inzwischen ein ganz schönes Stück des Silicon Valley», sagte Herr Bachmann im März lächelnd, die Mundwinkel leicht nach unten gezogen. «Das ist nicht unser Depot», erwiderte Vreni, «es ist das Depot meiner Eltern.» Herr Bachmann unterbreitete ihr, wie in den letzten Jahren auch, routiniert einige Vorschläge zur steuerlich optimierten Gestaltung ihres dereinstigen Nachlasses, was Vreni ebenso routiniert einfach überhörte. Das Thema reichte noch immer nicht ganz an sie heran. Sie werde sich das überlegen, sagt sie dann jeweils. Sie werde sich bei Herrn Bachmann melden. (Oder auch nicht, denkt sie). Nach der Besprechung fuhr sie mit dem Tram zum Zoo und warf das goldene Ticket für das Rennwochenende in Monte Carlo, welches ihr Herr Bachmann ganz feierlich mit einem feinen Zucken in den Mundwinkeln überreicht hatte, da sie bald schon zum «Club der Achtstelligen» gehöre, beim Afrika-Kiosk in den Abfalleimer. «Nicht wir sind bald achtstellig, Herr Bachmann», hatte sie erwidert, «unsere Eltern sind es».

Im März kommen jeweils auch die Kundinnen in den Salon, die sich im November für ein paar Monate in den Süden begeben, sich dort ein neues Tattoo stechen lassen und einen neuen Liebhaber zulegen, um sich dann in der noch kalten Heimat die Wunden lecken. Sie jammern über die hohen Preise hier, die gestiegenen Preise dort und die Rente, die niemals reicht. Vreni hatte immer das Gefühl, im Geld gleichsam zu schwimmen, seit sie zum Arbeitseinkommen die Rente hinzu erhielt. Ursi Sahli lebt im Winter in Maspalomas und ist mit Peter Vögtlis zweiter Frau bekannt, die ebenfalls dort überwintert. Von ihr hat Vreni erfahren, dass es Peter im Alter dreckig gehe. Er sei zwar einigermassen gesund, aber bei ihm reiche das Geld nach seinen drei Insolvenzen ganz und gar nicht, sagte Ursi. Peters Missgeschicke vermögen Vreni noch heute zu berühren, denn es tut ihr leid, dass sie ihn wohl zu Unrecht aus ihrem Leben verbannt hatte. Sie überlegte kurz, ob sie ihm in ihrem Testament eine Summe zuwenden soll, die ihn aller Sorgen enthöbe. «Es ist traurig», fügte Ursi hinzu, «dass Peter sich von seiner jeweiligen Freundin aushalten lassen muss.» Damit war der Gedanke einer möglichen Zuwendung auch schon an sein Ende gelangt.

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