Das göttliche Saxofon

 «Das ist es», sagte Papa leise. Seine Augen leuchteten. Der Mann im Zolllager im Düsseldorfer Hafen hatte vor unseren Augen eine Kiste auf die kalte Tischplatte aus Metall gelegt und geöffnet und ihr einen Koffer entnommen, in dem in grünem Samt ein Saxofon gut gebettet war. «Was ist das?» fragte ich. «Das Saxofon», sagte Papa. Es war mein achter Geburtstag. Ich hatte mich am frühen Nachmittag in der Staatskanzlei einzufinden. Der Pförtner rief Papa an, diesmal ohne mich hereinzubitten. Dann fuhren Papa und ich zum Hafen und holten das Tenorsaxofon ab, das aus Amerika zu uns gereist war.

 

An meinem fünften Geburtstag hatte mich Papa ein erstes Mal eingeladen, ihn in sein Arbeitszimmer zu begleiten, welches sich im Parterre des westlichen Anbaus unseres Hauses befand. Meine Eltern nannten den grossen, hohen, ganz in Holz gehaltenen Raum mit dem Kamin und der prächtigen Aussicht in die grossen Bäume das Urlaubszimmer. Sie hatten jedem einzelnen Raum im Haus einen Namen gegeben, wobei sich die Namensgebung aus der räumlichen Funktion nicht ohne weiteres erschloss. Das Urlaubszimmer hiess so, weil Papa immer wieder sagte, er arbeite gerne zuhause und fühle sich dabei wie im Urlaub, was wohl hiess, er fühlte sich hinter seinem Schreibpult viel besser als im Urlaub, von seinen Büchern behütet und geschützt vor der Hitze und dem ausgelassenen Geschwätz. Das Arbeitszimmer hatte einen angenehm weichen, hellen Teppich, der beim Gehen das Gefühl vermittelte, zu schweben. Einzig der Pendelschlag der Wanduhr war vernehmbar, sofern man sich nicht rührte. Von draussen drangen die gedämpften Stimmen der Vögel ans Ohr.

Die Hunde legten sich auf dem Berberteppich vor dem Sofa hin. Papa hob mich mitsamt den Hausschuhen auf das Sofa, mein Rücken berührte die Lehne, wodurch meine Füsse den seidenen Stoff der Sitzfläche berührten. Das spielte heute wohl keine Rolle, weil mein Geburtstag war. Ich konnte bis hundert zählen und wusste, dass fünf noch nicht viel war. Papa war im Jahr meines fünften Geburtstags sechsunddreissig Jahre alt, Grosspapa siebenundsechzig und Mama zweiunddreissig. Mama war also fünfunddreissig Jahre jünger als Grosspapa, und sie war seine Schwiegertochter. Margarete war schon acht, und Grossmama tot. Sie war vor ein paar Monaten gestorben am Flügel im Salon ihres Hauses. Margarete hatte ihr, in ihre Lektüre vertieft, zugehört, als ihr Spiel plötzlich verstummte und sie gestorben leise vom Klavierstuhl sank. Verstorben, wie man damals noch sagte, nach reich erfülltem Leben im einundsechzigsten Lebensjahr. Sechzig war also ziemlich viel.

Das Urlaubszimmer flösste mir Respekt ein. Von der Wand auf der rechten Seite, die von den drei grossen Fenstern unterbrochen wurde, blickten grimmige Ritter gebieterisch von dunklen Gemälden, in Rüstung oder auf Pferden, stolz und keinen Widerspruch duldend. Vor dem Sofa stand ein grosser Salontisch mit einer Glasplatte, darauf ein riesiger Aschenbecher, ebenfalls aus Glas, der, fiel ein Sonnenstrahl auf ihn, in allen Farben leuchten konnte. Das Zimmer war eben auch der Ort der Geheimnisse. Das letzte Geheimnis, welches der Raum in sich barg und das mein Vater viel später lüftete, war die Pistole in seiner Pultschublade.

In der Jugend dann war mir Papas Bibliothek, welche die ganze Wand auf der linken Seite einnahm, nie versiegender Quell der Inspiration. Am liebsten waren mir die Bücher in den oberen Bereichen, da sie, auch für einen Erwachsenen, nur unter Zuhilfenahme einer schmucken Leiter erreichbar waren. Ich liebte es, ganz zuoberst auf der Leiter stehend im Regal nach Beute Ausschau zu halten.

Papa hatte sich am Schreibpult in seinen wuchtigen Lederstuhl gesetzt, lehnte sich federnd zurück und erklärte mir quer durch den Raum förmlich, dass ich mit fünf nun alt genug sei, um etwas musikalische Bildung zu empfangen. Er wolle mit der Trompete beginnen. Er erhob sich und entnahm dem Büffet an der Wand hinter seinem Schreibpult eine Schallplatte, die er auf den Plattenspieler legte. Die Lautsprecher mit den gewundenen Hörnern standen in der linken und der rechten Raumecke. Er löste den Mechanismus aus und der Tonarm bewegte sich zum Rand der Schalplatte und senkte sich dann von allein auf die Platte. Papa eilte zu mir und setzte sich neben mich.

In dem Moment vernahm ich Musik, wie ich sie vorher noch nie gehört hatte, laut und schön und gesegnet. Eine Einleitung mit Trompete, blechern, triumphierend, voller Freude und Energie, zunächst aufsteigend, dann absteigend und überleitend in einen schleppenden Blues voller Leben, lustigem Geschepper und einem wortlosen Singsang, der mir die Tränen in die Augen trieb. Dann wieder diese Trompete: «Westend Blues von Louis Armstrong», sagte Papa. «Ein kleiner, armer Negerjunge, der schon früh – etwa in Deinem Alter – im Süden von Amerika Trompete lernte und ein Wunderkind war». Papa erhob sich wieder, ging zum Plattenspieler, setzte den Tonarm zurück und wiederholte das Stück. Diesmal half er mir, nachdem er wieder auf dem Sofa Platz genommen hatte, auf seinen Schoss. Diese verzückende Musik und Papas warmer Körper verbanden sich zu einem grossen, vibrierenden und überwältigenden Ganzen. Ich fühlte mich Papa nie so nahe, wie gerade jetzt. Die vorher noch knapp unterdrückten Tränen waren nicht mehr aufzuhalten. Ich weinte hemmungslos, auch als diese einmalig schöne Musik längst verklungen war. Beide Hunde heulten mit. Mein Schoss, meine Oberschenkel und die Handgelenke meines Vaters waren von den Tränen bald genässt. Papa liess es geschehen. Als ich wieder Haltung annehmen konnte, bot er mir an, in der Küche nach einer Limonade Ausschau zu halten. Anschliessend würde er mir noch weitere Musik von Louis oder Satchmo zeigen.

Am Abend begleitete Papa mich in mein Schlafzimmer. Er erzählte mir die Geschichte von Satchmo. Er sei ihm einmal auf einer seiner Reisen nach New York begegnet. Satchmo habe ihm eine Platte geschenkt und darauf unterschrieben. Man nenne das ein Autogramm. Glücklich lauschte ich Papas Worten und schlief dann ein.

«Morgen!», sagte Papa, als er sich tags darauf an den Frühstückstisch setzte. «Morgen!», sagte Mama. Darin erschöpfte sich das morgendliche Begrüssungsritual meiner Eltern. Der Duft von Rasierwasser vermischte sich angenehm mit demjenigen von Kaffee. Wir Kinder hatten unsere Eierspeise meist schon gegessen, es folgten noch das Brötchen und der Saft oder die Schokolade. Aus dem Salon tönte jeden Morgen klassische Musik. Es war ein klassischer Haushalt, in dem ich aufwuchs. Jazz gab es nur im Urlaubszimmer.

Es entbrannte in der Folge eine kleine Konkurrenz um meine musikalischen Präferenzen. Mama lockte mich mit allerhand Klassischem, Papageno hier, Karajan da, Grosspapa nahm mich mit nach Düsseldorf an ein Klavierrezital einer alten, klapprigen Frau, die, so schien es mir, aus Hänsel und Gretel hätte stammen können. Prompt war ich nach der Pause im mit rotem Samt bezogenen Klappstuhl eingeschlafen. Papa bat mich ab und zu und ohne grosse Worte in sein Arbeitszimmer, wo wir uns weitere Schallplatten von Louis Armstrong anhörten. Und hätten mich je Zweifel befallen, auf welcher Seite ich stand: Ein Akkord von Satchmo, und die Sache wäre geklärt gewesen. Margarete blieb trotzig und klassisch.

An meinem sechsten Geburtstag folgte die Einführung der Jazz-Klarinette in mein Leben. Benny Goodman und seine Band brachten meine Glieder ins Zucken. «Benny Goodman ist ein weisser Jude, auch er, wie Satchmo, arm aufgewachsen», sagte Papa. Ich hatte keine Ahnung, was ein Jude war, aber offenbar etwas Gutes, sonst wäre solche Musik gar nicht möglich, dachte ich. «Ich reise ja ab und zu nach Washington. Wie Du weisst, ist Deutschland kein freies Land (nein, wusste ich nicht, ich war doch erst sechs). Die Briten und die Amerikaner sagen uns, was zu tun ist, und haben uns diese Demokratie verordnet. Es gibt noch ein anderes Deutschland. Das ist kommunistisch. Also: Ich reise deshalb ja oft nach Washington, um den Amerikanern unseren Standpunkt zu erklären, und mache auf dem Rückweg stets in New York halt, wo all diese begnadeten schwarzen Jazz-Musiker leben. Viele sind krank, viele sind arm. Goodman aber ist sehr reich geworden.» «So reich wie Grosspapa?», fragte ich. «Viel reicher.» «Hat Dir Benny Goodman auch eine Platte geschenkt?» «Nein, ich kenne ihn nicht. Er hat aber schwarze Musiker immer gefördert. Er hat auch durchgesetzt, dass sie in seiner Swing-Band spielen durften, was vorher nicht gestattet war.»

Der siebte Geburtstag sollte eigentlich im Zeichen des Klaviers stehen. «Dave Brubeck ist, wie Benny Goodman, ein Weisser, allerdings von der amerikanischen Westküste. Auch er hat sich dafür eingesetzt, dass schwarze Musiker bei ihm spielen durften», sagte Papa. Die Klänge des Pianos verwirrten mich. Sie waren oft nur für den Takt zuständig, aber so, dass mir ganz schwindlig wurde. «Was ist das andere für ein Instrument, Papa?», fragte ich. «Das ist das Saxofon von Paul Desmond.» «Ist das schwierig zu lernen?» «Wie jedes andere Instrument auch. Man muss viel üben. Alle Musiker der Band haben auf dieser Platte hier mit dem Titel «Time Out» unterschrieben, mit Widmung, auch Paul Desmond.»

Ich war auf der Stelle verliebt in Paul Desmonds Saxofonspiel. Es war so klar, so freundlich, so voller wunderbarer, kluger Phrasierung. Von da an wollte ich nur noch Musik mit Saxofon hören. Dies brachte Mama und Grosspapa in Verlegenheit, denn sie fanden trotz vertiefter Suche fast keine klassische Musik für Saxofon, ausser von Debussy und Ravel. Das Saxofon war hier aber nicht lebendig und frei wie bei Paul Desmond, sondern lediglich dem Orchester rhythmisch zudienend oder allenfalls in einen Käfig mit nur ganz kleinem Auslauf gesteckt, bei dem anstelle von Gitterstäben das Piano die harte, unüberwindliche Grenze markierte.

Am Vorabend meines achten Geburtstags ergab sich dann eine Art Erleuchtung, man könnte sagen, mein erster Rausch. Papa bat mich in das Arbeitszimmer und spielte mir eine Platte von John Coltrane vor. Ich hörte ein heiseres, brüllendes Saxofon, leidend, bellend, betend, verzückt, lobpreisend und von Gott berührt und gleichzeitig völlig befreit und selbstbewusst. Noch nie hatte ich eine solch wahrhaftige, absolut reine Musik gehört, die mich Heiliges spürbar erscheinen liess. Diese Musik war sehr kompliziert und für mich doch so einfach zu verstehen, dass ich zu erkennen glaubte, es gäbe einen einmaligen Schatz, der nur mir und Papa zugänglich sei. Der Rest der Welt, meine Schulkameraden, mein Lehrer, Mama, Grosspapa und Margarete würden für immer hiervon ausgeschlossen sein.

Tags darauf holten wir das Saxofon im Zolllager ab. Zuhause begaben wir uns in Papas Arbeitszimmer. Er stellte den Koffer auf sein Schreibpult. «Dies, mein Sohn, ist Dein Saxofon. John Coltrane war bis zu seinem Tod ein guter Freund von mir. Alle nannten ihn Trane. Seine Frau Alice hat mir auf meine Bitte hin dieses Saxofon von Trane überlassen, damit ich es Dir zum Geburtstag schenken kann. Eines Tages wirst Du vielleicht lernen, darauf zu spielen, und zumindest stets daran erinnert sein, dass Gott uns manchmal dort erscheint, wo wir es nicht erwarten würden.»

 

Nachdem sich mein Vater, ich war inzwischen 27 Jahre alt und hatte lediglich etwas Gitarre gelernt, in seinem Arbeitszimmer erschossen hatte, erhielt ich von meiner Mutter das Saxofon von Coltrane «als persönliches Andenken an Deinen Vater» ausgehändigt. Sie war bitter und kalt und hatte wohl vergessen, dass mein Vater es mir zum achten Geburtstag geschenkt hatte. Als sich dann kurz darauf anhand der Akten feststellen liess, dass mein Vater gar nie in die USA gereist war, strengte ich die Klärung der Herkunft des Saxofons an. Es war tatsächlich von Coltrane. Seine Witwe Alice bestätigte dies den Anwälten. Das Instrument hatte sie zwei Jahre nach dem Tod ihres Gatten als gestohlen gemeldet, nachdem es aus ihrem Haus entwendet worden war, wobei sie sich gewundert hatte, dass sonst nichts fehlte. Mein Vater musste den Einbruchdiebstahl in Auftrag gegeben haben, um mir das göttlich inspirierte Instrument zum Geburtstag zu schenken. Auf mein Angebot, ihr das Instrument zurückzugeben oder ihr einen Betrag zur Verfügung zu stellen, wollte Alice nicht eingehen. Sie vergebe meinem Vater, teilte sie den Anwälten mit. Trane hätte das so gewollt.

In meinem Arbeitszimmer im Pfarrhaus zu Erlinsburg befindet sich in grünen Samt gebettet ein gestohlenes Saxofon. Gott jedoch wohnt längst woanders.

 

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