Die Vigilanti

Am Nachmittag des 17. September 2018 begab sich Alessia, wie an jedem 17. des Monats, auf den Cimitero Accatolico im römischen Quartier Testaccio. Sie entstieg der Metro östlich zum Friedhof, von wo dann ein kleiner, heute besonders vergnüglicher Spaziergang folgte durch weite Gräberreihen, zunächst vorbei an den kitschigen und opulenten Denkmälern grosser und weniger grosser Verstorbener zur Unterstreichung der unzweifelhaften Bedeutung ihres Wirkens und ihres Namens für die Stadt, bis dann bald die Gräber der Normalsterblichen auftauchten.

Gianni und Salvi, zwei, die sich nie gekannt hatten, waren wie immer schon da. Es gehörte zu Alessias Gewohnheit, an ihrem Grab zwei frische Kerzen zu entzünden, ein paar liebe Worte an den Geliebten und den Sohn zu richten, sie auf den schönen Gesang der Vögel aufmerksam zu machen, sie ihrer immerwährenden Liebe zu versichern und sie um noch etwas Geduld zu bitten. Gianni war am 17. August 1987 verunfallt, Salvi am 17. Dezember 2000 an Leukämie gestorben.

Heute Abend würde ihr die Università di Roma die Ehrendoktorwürde für ihre Verdienste um die Kunstgeschichte verleihen. Alessia hatte vorgestern das Angebot, für den heutigen Abend von einem Fahrer der Accademia abgeholt zu werden, höflich abgelehnt. Sie werde dennoch pünktlich da sein, hatte sie dem Präsidenten ausrichten lassen. Sie hatte noch genügend Zeit bis zum Abend und setzte sich für einen Moment auf die Sitzbank im Schatten einer Pinie ganz in der Nähe des Grabes, richtete ein kleines Gebet des Dankes an den Unergründlichen und lauschte dem Singsang in der Baumkrone über ihrem Haupt.

Der heutige Ehrentag, an welchem ihr Lebenswerk einen würdigen Abschluss finden würde, wäre ohne Gianni nie denkbar gewesen. Er, der längst in ihr Leben eingetreten war, bevor sie sich dessen gewahr wurde, der brillante Student der Kunstgeschichte, Doktorand an der Università, hatte sich mit Gespür und Instinkt in ihrem Leben eingenistet. Er entsprach genau ihrem Wunschbild eines entschlossenen und dennoch sanften Mannes. Es war ihr rasch aufgefallen, dass er der einzige Mann in ihrem weitläufigen Bekanntenkreis war, der nichts auf Fussball gab, was ihr irgendwie imponiert hatte.

Sie wusste aber, dass er, dieser 23-jährige Doktorand und Assistent, mit den dunklen Glutaugen, dem hellwachen Blick und den vollen Lippen mit den wunderschönen Lachen, sich nicht mit ihr, der 18-jährigen Abiturientin, abgeben wollen würde. Sie wusste auch, dass seine Professorin gewisse Besitzansprüche an Gianni geltend machte. Sie hatte ihn mit allen Mitteln gefördert, ihn ermuntert, seine Dissertation vor dem eigentlichen Studienabschluss zu beginnen, verknüpft mit einer recht gut dotierten Assistentenstelle an ihrem Institut, und ihm gleichzeitig das Stipendium für einen zweijährigen Forschungsaufenthalt nach Abschluss der Dissertation in den USA vermittelt. Gianni wollte nie richtig herausrücken, inwiefern er sich zu amourösen Gegenleistungen verpflichtet hatte. „Alessia, tu sei mio solo amore“, pflegte er lediglich zu sagen, und später fügte er jeweils an, „in Cambridge werden nur noch wir zwei wichtig sein.“

Heute lebt Alessia im stattlichen Bürgerhaus in der Via Napoli, in welchem sie aufwuchs. Sie hatte eine schöne Kindheit verbracht, ihre Eltern hatten sie geliebt und gefördert, und, wie sie findet, nicht verwöhnt, wofür sie stets dankbar war. Sie hätte gerne Geschwister gehabt, dieser Wunsch war ihr und ihren Eltern versagt geblieben. Sie liebte die Schule, vielleicht war das ihre Erblast, denn beide Eltern waren leidenschaftliche Pädagogen. Es schien ihr manchmal, besonders ihr Vater gräme sich ein bisschen, dass sie nie um Hilfe bei den Hausaufgaben und um Unterstützung bei Problemen in der Schule hatte bitten müssen. Ihr fiel das Lernen leicht, sie war eine gute Schülerin, Klassensprecherin und hatte viele Freunde und Freundinnen. Vielmehr war sie es, die von ihren Kameraden stets gebeten wurde, Konflikte in der Klasse zu lösen, die Lehrer wandten sich an sie, um Schwierigkeiten mit gewissen Schülern zu beseitigen. Solche Aufgaben übernahm sie gerne, es fiel ihr leicht, zur Lösung delikater Angelegenheiten den entscheidenden Impuls zur Zufriedenheit aller Beteiligter zu setzen.

Es war von Anfang gegeben, dass sie das Liceo classico Ennio Quirino Visconti besuchen würde, die altehrwürdige Institution, an welcher auch ihre Eltern ihre gymnasiale Ausbildung und die ersten süssen Früchte ihrer grossen Liebe genossen hatten. Ihre Eltern liessen ihr bei der Studienwahl freie Hand und sie respektierten auch ihren Entscheid, nach dem Abitur vorerst nichts zu machen, und stattdessen mit Gianni durch Italien zu reisen. Dies entsprach einem Wunsch von Gianni, der sich nach dem Studienabschluss per Januar 1987 für ein halbes Jahr von seiner Doktorandenstelle beurlauben liess, um ein persönliches Inventar der wichtigsten, noch nicht verzeichneten Kulturgüter Italiens zu erstellen. Diese Reise öffnete Alessia, welche bisher Rom ausser für ein paar Urlaubstage am Meer noch nie verlassen hatte, die Augen für den einzigartigen Kulturschatz Italiens. Sie empfand ihr Land plötzlich als grossen Statuen-Zoo, welchen sie mit staunenden Augen und mit wachsendem Respekt ergründete, und während sie durch Italien trampten, erwuchs in ihr der Wunsch, nach ihrer Rückkehr ebenfalls Kunstgeschichte in Rom zu studieren und mit Gianni eine Familie zu gründen. Dieser zweite Wunsch rückte alsbald an die erste Stelle, als sie festgestellt hatte, dass sie schwanger war.

Während der Reise kartographierte Gianni die ihm als besonders wichtig erschienenen Kulturgüter und Kunstschätze, die in Kirchen und auf öffentlichen Plätzen einfach so herumstanden. Er teilte ihr seine Sorge mit, dass die meisten dieser Kulturgüter Vandalen, Sprayern aber auch Dieben schutzlos ausgeliefert seien. Bereits im Laufe des ersten Reisemonats wandte er sich an seine Professorin, die als wissenschaftliche Beraterin der UNESCO wichtige internationale Kontakte pflegte, und teilte ihr seine Sorge mit. Die Professorin sagte, es sei vorstellbar, sich nach Giannis Rückkehr mit ihm gemeinsam um die Sache zu kümmern.

Auf der Reise entstand eine Dokumentation von hunderten bedeutenden, noch nicht registrierten Brunnen und Statuen, welche Gianni mit sicherem Auge von den weniger wichtigen unterschied. All dies erläuterter er Alessia geduldig, so dass sie bald dieselbe wissenschaftliche Passion teilten. Ihre Schwangerschaft behielt Alessia indes für sich. Ab dem Frühjahr nahm Gianni gelegentlich den kleinen Rucksack, welcher er im Gepäck mitführte, und erklomm eine Anhöhe, um sich mit dem Gleitschirm in die Lüfte zu erheben und sich unter Ausnützung der Thermik in die Höhe zu schrauben. Er jauchzte über dem Tal und war dermassen voller Glück, dass sich Alessia jeweils mit ihm freute.

Nach ihrer Rückkehr nach Rom mobilisierte Alessia ihre Freunde und deren Freunde, welche dann wiederum ihre Freunde mobilisierten, um mit diesen Menschen gemeinsam ein Konzept für den wirksamen Schutz der wichtigsten Werke der Renaissance Roms zu entwickeln, welche nicht zu den ganz grossen, weltweit anerkannten und entsprechend gehegten und überwachten Werken gehörten. In ihren Anfängen übernachtete der harte Kern dieser Kulturschützer, die Vigilanti, wie sie sich fortan nannten, gemäss akribischem Plan bei den wichtigsten Zeugen der Renaissance mit dem Ziel, mit den Vandalen und den Sprayern ins Gespräch zu kommen. Es geschah regelmässig, dass Alessias Mutter sie morgens um drei aus dem Bett holte, weil die Vigilanti irgendwo in der Stadt einen Sprayer gestellt hatten. Eine Stunde später hielt Alessia ihm dann einen Vortrag über die Renaissance, über die Einzigartigkeit der Kunstschätze und empfahl anstatt zu sprayen sich den Vigilanti anzuschliessen. So geschah es, dass Sprayer und Vandalen regelmässig auf die Seite der Kulturschützer wechselten. Für Alessia stand fest, dass sie gelangweilte Jungs waren, die ihren Weg im Leben suchten. Diesen Weg konnte sie ihnen als Vigilanti überzeugend vermitteln. So ergab es sich, dass ab Sommer 1987 in Rom immer weniger Kulturgüter von Sprayern und Vandalen mutwillig beschädigt wurden.

Das Netzwerk der Vigilanti wuchs rasch. Alessia war die Leiterin, sie verteilte die Aufgaben an ihre Führungsleute, übernachten vor Ort, Geld einsammeln, die Vigilanti in den anderen grossen Städten des Landes zu etablieren. Gianni unterstützte sie hierbei nach Kräften. Alessia war gerade damit beschäftigt, wirksame Massnahmen der Vigilanti gegen Kulturgüterdiebstahl vorzubereiten, als sie die Nachricht vom Unfall von Gianni erhielt. Er war an einen schönen Sonntag im August 1987 in den Abruzzen unweit von Rom mit seinem Gleitschirm abgestürzt, er hatte die Wetterverhältnisse wohl falsch eingeschätzt. Die Professorin, welche am Absturzort zugegen war, setzte Alessia persönlich von Giannis Tod in Kenntnis. Alessia nahm die Todesnachricht als Aufforderung, den Anliegen der Vigilanti mit allen Mitteln Gehör zu verschaffen.

Vigilanti vor Ort hatten bald festgestellt, dass der Diebstahl von Kulturgütern, Statuen insbesondere, wohl mit System betrieben wurde. Alessias Recherchen hatten ergeben, dass die hoch angesehene Familie Siracuso hier einen lukrativen Geschäftszweig aufgebaut hatte, indem sie Statuen entwenden liess, um sie an wohlhabende Amerikaner und Japaner zu vermitteln. Den Tipp dazu gab ihr ein befreundeter Journalist, der die Reise einer Statue von einem Brunnen in Ravenna bis Houston verfolgt hatte und dabei auf ein verschlungenes Firmennetz gestossen war, hinter welchem die Familie Siracuso steckte. Ihr Oberhaupt, Don Giuglio, war in der Öffentlichkeit bekannt als grosszügiger Geldgeber der AS Roma, und so war es für Alessia einfach, ihn anlässlich eines Heimspiels der Mannschaft auf die Problematik anzusprechen. Nach dem Spiel hörte er sich, infolge des unerwarteten Sieges seiner Mannschaft gut gelaunt, geduldig den Vortrag Alessias über die Renaissance und die Bedeutung auch der weniger bekannten Kulturschätze für Italien an und zeigte sich überzeugt, zu einer Lösung des Problems beitragen zu können. Sein Anwalt werde sich in den nächsten Tagen mit Alessia in Verbindung setzen. Der Avvocato trat tatsächlich einen Tag nach dem Spiel, einem Montag, mit ihr in Kontakt und am Dienstag unterzeichneten sie die Vereinbarung zwischen den Vigilanti und dem Avvocato (es war eine persönliche Vereinbarung mit ihm, da der Name Siracuso oder einer der Firmen nicht ins Spiel gebracht werden durften), wonach die Hälfte der Zuwendungen römischer Spender für die Vigilanti inskünftig dem Avvocato zufliessen würden, und er im Gegenzug auf eigene Kosten dafür besorgt sein würde, dass alle römischen Kulturgüter Schutz vor Diebstahl geniessen würden. Alessia hatte Don Giuglio vorgeschlagen, die Kulturschätze als stille Reserven zu betrachten, welche von ihm jederzeit aufgelöst werden könnten, und diese Reserven mit der Hälfte der reichlich fliessenden Spenden verzinsen zu lassen. Damit war auch dem Kunstdiebstahl in Rom der Riegel geschoben.

Alessia gilt heute als Expertin ersten Ranges für die Renaissance Italiens. Die UNESCO möchte sie als Beraterin in ihr Gremium aufnehmen, was bisher nicht möglich war, da sie die satzungsgemässe Voraussetzung eines kunsthistorischen Universitätsabschlusses und der Promotion nicht erfüllte. Alle Versuche der Università, der UNESCO hochangesehene Professoren aus den eigenen Reihen schmackhaft zu machen, scheiterten, denn in den Augen der UNESCO ist einzig Alessia in der Lage, den Mafia-Aspekt im Bereich Kulturgüterraub wirksam auf ein Minimum zu beschränken. So gab die Università dem Drängen der UNESCO nach und schlug die Verleihung der Ehrendoktorwürde an Alessia vor, womit sich das Problem elegant erledigen liess. Alessia hatte dem Präsidenten diesen Lösungsweg vorgeschlagen.

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